Samstag, 9. Februar 2013
Jugendlicher Optimismus
Als ich abends in einem Berghotel saß, kam ein zwanzigjähriger Bursche hereinspaziert. Er hat sich breitbeinig mitten in den Gastraum gestellt und alle Gäste abschätzig angeschaut. Er war mit einer knallgrünen Hose und einem knallroten Pullover bekleidet. Ein Zahnstocher ragte seitlich aus seinem Mundwinkel. Nachdem er festgestellt hatte, dass er der beste Bergsteiger in diesem Raum ist, und ansonsten nur langweilige Touristen rumsitzen, der bergsteigertechnisch gesehen nichts drauf haben, hat er sich beruhigt zu seinen Kollegen gesetzt. Dort haben sie dann bei ein paar Bier über ihre Abenteuer in der Eiger-Nordwand geredet.

O-Ton: Ich wollte mit einem Kumpel die Eiger-Nordwand machen. Der Wetterbericht hat aber nichts Gutes vorausgesagt. Ich wollte es aber trotzdem probieren. Als ich mitten in der Wand war, ging es aufgrund der vereisten Felsen nicht mehr richtig weiter. Also habe ich angerufen: Wie viel kostet eigentlich die Heli-Rettung? Nichts? Dann könnt ihr mal kommen. Das war mal ein Erlebnis, an der Long-Line eines Helis zu hängen.

Nach ein paar weiteren Bier haben sie dann einen Streit mit der Bedienung angefangen.

Das Berghotel hat an diesem Abend nicht nur eine Skitourengruppe mit ihrem Bergführer bewirtet, sondern auch eine Gruppe von Bergführer-Aspiranten. Diese zwanzigjährigen Burschen haben alle mit einem großen Optimismus in ihre Zukunft geschaut.

Im Sommer sieht man dann einen jungen Bergführer, der vor zwei Jahren seine Ausbildung abgeschlossen hat. Da kann man als normaler Tourist nur neidisch werden: man selbst muss ein halbes Jahr im Büro arbeiten, damit man sich mal eine Hochtourenwoche gönnen kann, und der Bergführer ist den ganzen Sommer auf Hochtour und wird dafür auch noch bezahlt.

Der junge Bergführer erzählt, dass er es überhaupt nicht für nötig erachtet, das ganze Jahr zu arbeiten. Er arbeitet nur sechs Monate im Jahr, und die restlichen Monate zeltet er mit seiner Freundin auf einer sonnigen Insel, wo er den ganzen Tag klettert.

Der Bergführer wirkt sehr tiefenentspannt. Das könnte auch daran liegen, dass er gerade mit ein paar Freunden einen Monat lang in Nepal war. Diese Reise wurde von einem Freund aus seinem österreichischen Bergdorf finanziert, der gerade ein Sportgeschäft geerbt hat. Als der Bergführer mit seinen langen lockigen Haaren in dem nepalesischen Bergdorf aufgetaucht ist, ist ihm jemand hinterhergelaufen, der ihm unbedingt Haschisch verkaufen wollte. Der Nepalese konnte gar nicht verstehen, wie ein junger Mensch mit so langen lockigen Haaren nichts haben möchte.

In dem Berghotel war meine Gruppe mit einem vierzigjährigen Bergführer unterwegs, der einen etwas niedergeschlagenen Eindruck gemacht hat. Ein Grund für seine schlechte Laune war, dass gerade ein Steuergesetz geändert wurde. Nun muss er das Einkommen, das er als Österreicher von einer deutschen Bergsteigerschule bekommt, doppelt versteuern. Ein Schweizer Bergführer verdient jetzt doppelt so viel wie er. Er muss nun das ganze Jahr arbeiten, um den Unterhalt für seine geschiedene Frau und sein Sohn zahlen zu können. Nach den Steuern, den Unterhaltszahlungen und den sonstigen Lebenshaltungskosten bleibt wenig übrig, obwohl er das ganze Jahr arbeitet. Der Bergführer kommt in der Sommersaison monatelang nicht nach Hause und sieht seinen Sohn monatelang nicht. Weiterhin jammert der Bergführer, dass er nur in einer kleinen Dachgeschosswohnung lebt, in der man auch nachts den Lärm der vorbeifahrenden Züge hört. Auf die nächste Arbeitswoche hat er auch überhaupt keine Lust: seine Gäste haben sich nämlich in den Kopf gesetzt, unbedingt eine Skitour in der Mont-Blanc-Gruppe zu machen. Er hat sie schon angerufen und ihnen gesagt, dass es aufgrund der Schneebedingungen in dieser Region nur sehr unschöne Touren in dieser Region geben wird, und deshalb ein Ausweichziel vorgeschlagen. Dieser Anruf konnte seine Gäste aber nicht überzeugen, weshalb er eine Tourenwoche vor sich hat, von der er zu Anfang schon weiß, dass sie schrecklich werden wird.

Mit diesem vierzigjährigen Bergführer könnte man fast Mitleid bekommen. Ein Gast hat diesen Bergführer gefragt, ob er früher genau so war wie die arroganten zwanzigjährigen Burschen vom Nebentisch. Er konnte das nicht ausschließen. Mit diesem Hintergrundwissen konnte ich jetzt kein Mitleid mit dem vierzigjährigen Bergführer haben. Wer als Zwanzigjähriger seine ganzen Lebensoptimismus verbrennt und meint, er müsste nur sechs Monate im Jahr arbeiten, muss als Vierzigjähriger nicht rumjammern, dass er nur in einer kleinen Dachgeschosswohnung lebt. Soll er sich doch darüber freuen, dass er den ganzen Tag durch die Berge spazieren darf, während der normale Mensch im Büro sitzen muss.

Dieses Muster findet man nicht nur bei Bergführern, sondern auch bei allen anderen Berufen. Manchmal fühle ich mich von den Zwanzigjährigen schon etwas genervt, wenn sie denken, dass das Leben eine endlose Party wäre. Man müsste den Optimismus besser verteilen und den Zwanzigjähren etwas nehmen und den Vierzigjährigen etwas geben.