Samstag, 11. April 2015
Schwäbische Mentalität
Als ich vor zwei Wochen auf einer Skitourenwoche war, hat sich der Bergführer abends auf der Hütte über die schwäbische Mentalität lustig gemacht. Der Bergführer ist der Liebe wegen von Berchtesgaden in das Schwabenland umgezogen. Dort gibt es Kletterfelsen. Samstags sind dort alle Routen in den Kletterfelsen frei, während man am Sonntag an jeder Route Schlange stehen muss. Der Bergführer hat gespottet: der Schwabe muss am Samstag den blauen Kittel anziehen und den ganzen Tag um das Haus laufen, damit der Nachbar sieht, dass man fleißig ist.

Jeder am Tisch hat darüber gelacht, bis auf mich. Daraufhin hat mich der Bergführer gefragt, ob ich etwa Schwabe bin. Nein, ich bin kein Schwabe, ich komme aus dem Badischen, aber dort ist die Mentalität in dieser Hinsicht genau gleich. Im Frühling sieht man am Samstag vor jedem Haus jemand, der Rasen mäht, Bäume schneidet, oder mit dem Hochdruckreiniger arbeitet. Jemand, der dort auf die Idee kommen würde, samstags klettern zu gehen oder eine Radtour zu unternehmen, würde als faul beschimpft werden. Der Bergführer hat dagegen einen pflegeleichten Nussbaum neben seinem Haus stehen, und kann so am Samstag klettern gehen.

Ich habe nicht gelacht, weil ich stattdessen über die Einstellung des Bergführers verwundert war. Vor allem weil der Bergführer aus einem der hintersten Winkel in Bayern stammt. Wenn ich an Bayern denke, stelle mich mir einen ländlichen Raum vor, in dem fast jeder entweder Bauer ist, oder von einem Bauer abstammt und noch in der Verwandtschaft hat. Dass sich ausgerechnet die bayrischen Bauern über den schwäbischen Hang zur ständigen Gartenarbeit lustig macht, war für mich schon sehr verwunderlich. Der bayrische Bergführer wird wohl sehr genau den Unterschied kennen: bei der Arbeit des Bauern kommt wirklich ein Ergebnis raus, während der Sinn des schwäbischen Samstag nur ist, den ganzen Tag irgendwie beschäftigt zu sein.

Just an diesem Wochenende wollten meine Kollegen am Samstag eine Wanderung mit einer anschließenden gemütlichen Einkehr unternehmen. Daran konnte ich nicht teilnehmen, weil ich noch so viel unerledigte Gartenarbeit hatte. Der vorherige Samstag war leider komplett verregnet, und die zwei folgenden Samstage waren schon anderweitig ausgeplant. Damit blieb nur der aktuelle Samstag zur Gartenarbeit. Ich muss noch mehrere große Bäume schneiden, drei Himbeerbüsche umsetzen, Grünschnitt fortfahren, den Rasen verkultieren usw. Der Baumschnitt muss im April erledigt sein. Also muss ich den ganzen Samstag Bäume schneiden. Und dann plagt meine Mutter schon länger, dass alle Waschbetonplatten mit dem Hochdruckreiniger vom Moos befreit werden müssen.

Es ergab sich, dass am Freitag meine Mutter mit einem Hasenvater telefoniert hat, der eine Anhängerladung voll Hasenmist loswerden musste. Meine Mutter hat sich sofort gerne bereiterklärt, den Hasenmist auf ihre beiden Komposthaufen zu übernehmen. Da der 75-jährige Hasenvater auch schon ein neues Hüftgelenk hat, wurde festgelegt, dass ich am Samstag den Transport des Hasenmists übernehme. Gut, dass ich schon das Wanderwochenende mit dem Kollegen abgesagt hatte, denn ich wurde ja nicht gefragt, ob ich an dem Samstag Zeit habe.

Überspitzt formuliert bedeutet die schwäbische Mentalität, dass wenn alle anderen den Samstag mit Wandern, Klettern und einer Einkehr genießen, der Schwabe zu Hause bleibt, um Hasenmist zu schaufeln.

Die Aktion mit dem Hasenmist war eigentlich sinnlos, da die überdimensionierten Komposthaufen ja schon insgesamt zur Hälfte voll waren, und der Garten sowieso überdüngt ist. Diese gesamte Gartenarbeit halte ich insgesamt für sinnlos. Meine Mutter betont zwar immer ganz stolz, dass sie so viele Kartoffeln erntet, dass davon die ganze Familie ein Jahr leben kann. Doch hat die Enkelin aus der Großstadt letzt, als sie Kartoffeln aus der Grube holen sollte, mit der Taschenlampen-App des iPhones in die Grube geleuchtet und dabei das iPhone fallen lassen. Leider war das nagelneue iPhone nicht versichert. Ein Sack Kartoffeln kostet ja nur ein paar Euro - für den Preis eines iPhones könnte man sein ganzes Leben lang Kartoffeln kaufen.

Reisen bildet. Ich habe bei meiner letzten Bergwoche von einem Bergführer die schwäbische Mentalität vor Augen geführt bekommen. Bisher hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich am Samstag beim Joggen oder Fahrradfahren an jemanden vorübergekommen bin, der Gartenarbeit verrichtet. Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein, denn der Jogger oder Radfahrer unternimmt etwas Schönes, was auch seiner Gesundheit nutzt, während die Leute, die sinnlos im Garten wursteln, einfach nur einfallslos und zu faul für Sport sind.

Der Tischnachbar des Bergführers hat diese Darstellung der schwäbischen Mentalität bestätigt: ich bin von Bayern ins Schwabenland gezogen, habe aber zum Glück ein Haus, das abgelegen liegt und durch die Bäume nicht einsehbar ist, so dass sich niemand beschweren kann, wenn ich das frisch gefallene Laub nicht sofort wegfege. Diese Beschreibung trifft zu, wobei ich von Gesprächen her nur die andere Seite kenne: die Rentnerin berichtet beim Kaffeeklatsch, dass die neu hinzugezogene Familie schon seit Tagen das Laub nicht wegfegt. Dies ist gefährlich, weil auf dem Laub ja jemand ausrutschen könnte. Also habe ich dort angerufen und gesagt, dass Laub herumliegt, welches weggemacht gehört. Daraufhin habe ich die unfreundliche Antwort bekommen: "von Ihnen möchte ich nicht wieder belästigt werden". (Die erzählende Rentnerin hat offen gelassen, wie oft sie dort angerufen hat, bis diese Aussage kam.) Als naiver Zuhörer dieser schwäbischen Rentnerin würde man sich die Frage stellen, ob man die Reingeschmeckten überhaupt auf der Straße grüßen darf. Wobei die schwäbische Hausfrau ja leicht reden hat: in ihrer Welt gab es zu jedem Haus auch eine Hausfrau, die den ganzen Tag Zeit hat. Dass heute auch Frauen berufstätig sind und ein Berufstätiger nach einem harten Arbeitstag nicht noch vor dem Haus einen Scheinwerfer aufstellen möchte, um im Dunkeln das Laub zu fegen, versteht die schwäbische Hausfrau einfach nicht. In ihrer Welt ist eine Hausfrau, die den ganzen Tag nichts anderes macht, als mal kurz Laub wegzufegen, mehr Wert als ein Berufstätiger, der den ganzen Tag eine gute Leistung im Beruf erbringt, und deshalb keine Zeit für die Gartenarbeit hat.

Diese moralische Überbewertung der Gartenarbeit möchte ich durch einen Vergleich noch weiter hinterfragen. Meine Mutter ernährt sich in der Hinsicht ungesund, dass sie zu viel Schweinefleisch isst. Dies ist ein typisches Verhalten der Nachkriegsgeneration, die sich in der Nachkriegszeit das Ziel gesetzt hat, es irgendwann zu schaffen, und dann jeden Abend Fleisch auf dem Teller zu haben. Wenn ich sehe, wie sie abends ein Brot dick mit Leberwurst beschmiert, und dann das Leberwurstbrot noch mit dicken Scheiben Griebenwurst belegt, dann ist das selbst einem Nichtvegetarier ein Zuviel an Schweinefleisch. Sämtliche Ermahnungen, sich gesünder zu ernähren, sind da absolut fruchtlos. Irgendwann war es dann so, dass zu dem Übergewicht, Bluthochdruck und den schlechten Cholesterinwerten noch ein neues Hüftgelenk hinzukam. Also habe ich ihr einen sehr guten Ergometer besorgt und gesagt: hier steht das Ergometer, da kannst du nach der Hüft-OP jeden Tag eine viertel Stunde draufhocken. Dieses Ergometer wurde von ihr nur einmal benutzt. Ich kann nicht verstehen, wie man einerseits so unwillig sein kann, etwas für seine Gesundheit zu tun, und jeden Sport als wertlose Zeitverschwendung abtut, aber gleichzeitig die eigentlich sinnlose Gartenarbeit so moralisch hoch achtet. Der Vergleich zeigt, dass es eigentlich umgekehrt sein müsste: wenn Samstags ein Jogger oder Radfahrer an einem Gärtner vorbeikommt, ist gemäß der schwäbischen Mentalität der Jogger oder Radfahrer faul und der Gärtner fleißig, dabei müsste im Gegenteil der Jogger oder Radfahrer hoch geachtet werden, während hingegen der Gärtner als jemand angesehen werden müsste, der mangels besserer Ideen seine Zeit mit langweiliger Wurstelei verschwendet und zu faul ist, etwas für seine Gesundheit zu tun.