Samstag, 23. Februar 2013
Euphemismus: Suche dir deine Freunde sorgfältig aus
Im Ortsblättchen stand vor kurzem ein Leitspruch der Zeugen Jehovas: Suche dir deine Freunde gut aus. Dieser Spruch klingt sehr gut, weshalb man diese Aussage sofort unterschreiben könnte.

Wenn ich früher den Spruch eines FDP-Politikers „Leistung muss sich wieder lohnen“ gehört habe, fand ich diese Aussage sehr gut und dachte, dass der FDP-Politiker Recht hat. Wenn ich danach die Aussage eines SPD-Politikers „wir müssen mehr für die armen Kinder in Deutschland tun“ gehört habe, fand ich diese Aussage ebenfalls richtig. Dass die eine Aussage genau das Gegenteil der anderen Aussage darstellt, fällt auf den ersten Blick nicht auf. Die eine Aussage fordert nämlich mehr Umverteilung durch den Sozialstatt, die andere Aussage weniger Umverteilung. Wenn man eine dieser beiden Aussagen vollständig richtig findet, müsste man die andere der beiden Aussagen als vollständig falsch betrachten. Die Politiker haben jedoch eine beschönigende Sprache entwickelt, so dass selbst negative Dinge so verpackt werden, dass sie positiv klingen. So klingt jede Aussage eines Politikers auf den ersten Blick immer positiv.

Kein Politiker sagt offen, dass Milliarden von deutschen Steuergeldern an Banken gegeben wird, die sich verzockt haben, und an südeuropäische Schuldenstaaten, die faul sind und schlecht gewirtschaftet haben. Stattdessen wird von der Einführung eines europäischen Stabilitätsmechanismus geredet, der den Euro noch sicherer macht als bisher.

Bei der Weihnachtsfeier meines Sportvereins habe ich mich mit einem Vereinsmitglied unterhalten, den ich schon lange nicht mehr im Training gesehen habe. Als ich ihn gefragt habe, was er so in seiner Freizeit macht, hat er angefangen zu reden und war nicht mehr zu stoppen. Sein Höhepunkt der ganzen Woche ist der Gottesdienst am Sonntag. Auch mehrmals unter der Woche trifft er sich regelmäßig zu einem Bibelkreis. Andere private Interessen schien er überhaupt nicht mehr zu haben. Früher ist er gerne Motorrad gefahren, am Wochenende in die Disco, und hat sich mit Freunden zu LAN-Partys getroffen. Heute scheinen seine ganzen privaten Interessen und Kontakte nur noch seine Kirche zu sein.

Er konnte stundenlang ununterbrochen über seine religiösen Ansichten reden: Jeder Mensch ist voller Sünde. Es genügt schon, eine Frau lüstern anzusehen, und schon hat man eine Sünde begangen. Eine solche Sünde kann man nicht einfach durch eine gute Tat wieder aufwiegen. Wenn man beispielsweise mit 50 km/h durch eine 30-Kilomter-Zone fährt, bekommt man eine Strafe, man kann nicht einfach sagen, dass man die nächste Zeit nur noch mit 10 km/h durch die 30-Kilometer-Zone fährt, um die Sünde wieder auszugleichen. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Sünde wieder loszuwerden: Tieropfer. Diese Tieropfer sind in der Bibel beschrieben. Danach hat er mir erklärt, welche Regeln man laut Bibel bei den Tieropfern beachten muss: es dürfen nur erstgeborene Tiere geopfert werden und das geopferte Tier muss gesund sein.

Ich weiß zwar, dass Tieropfer in der Bibel beschrieben sind, doch ist mir keine Amtskirche bekannt, die heutzutage noch Tieropfer praktiziert. Deshalb habe ich ihn gefragt, welcher Kirche er genau angehört. Seine Antwort war, dass er einer evangelischen Kirche angehört, aber nicht der evangelischen Amtskirche, sondern einer Freikirche.

Im weiteren Gespräch hat er gesagt, dass Deutschland ein so kleines Land ist, dass es nicht möglich ist, dass Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen friedlich zusammenleben können. Zuerst habe ich gedacht, dass ich mich verhört habe, weshalb ich nachfragen musste. Daraufhin hat er ein zweites Mal geagt, dass ein friedliches Zusammenleben in Deutschland nur möglich ist, wenn alle Menschen der gleichen Religion angehören. Er hat nicht gesagt, wie er diesen Zustand erreichen möchte. Ich würde vermuten, dass ein tausendjähriger Weltfrieden schon ein paar Opfer wert ist.

Wenn er öfters ins Training kommen würde, und vielleicht nach dem Training noch auf ein Bier mitgehen würde, könnte man versuchen, ihn aus der geistigen Enge seiner Sekte heraus zu bekommen. Dazu würde es schon genügen, wenn jemand darüber erzählt, dass er eine Freundin hat und damit ganz glücklich ist. Dann würde das Kirchenmitglied schon darüber nachdenken, ob die Einstellung "Kein Sex vor der Ehe" wirklich die richtige ist. Wenn das Kirchenmitglied noch Freunde außerhalb seiner Kirche hätte, würden seine Freunde auch versuchen, ihn aus seiner Sekte heraus zu bekommen. Ein Freund würde z.B. sagen: am Sonntag soll schönes Wetter werden, lass uns Motorrad fahren gehen, einmal kannst du den Gottesdienst ja ausfallen lassen. Die Sektenführer kennen jedoch diese Gefahr durch Freunde außerhalb der Kirche, weshalb die meisten Sekten jeglichen sozialen Kontakt außerhalb der Sekte verbieten. Ein kennzeichnendes Merkmal einer Sekte ist, dass sie sich nach außen abschotten. Familienangehörige von Scientology-Mitgliedern berichten, dass die Scientology-Mitglieder nicht einmal Kontakt zu den Eltern oder Geschwistern haben dürfen.

Am Ende dieser Betrachtung bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass ein Verbot von sozialen Kontakten außerhalb der Sekte etwas absolut Negatives darstellt, die Sektenführer dieses Verbot aber durch die Formulierung „Suche dir deine Freunde sorgfältig aus“ so darstellen, als wäre dies etwas Positives. Damit ist die Formulierung „Suche dir deine Freunde sorgfältig aus“ ein Euphemismus.